In letzter Zeit ist das Thema Kirchenasyl vor allem in den kirchlichen Medien wieder stark betont und verteidigt worden.[1] Dabei spielen bei den Argumentationen für die Gewährleistung oder wenigstens Tolerierung dieser Praxis von Kirchengemeinden und Orden durch den Staat weniger rechtliche Aspekte als moralische und caritative Gesichtspunkte eine Rolle. Daher lohnt es sich, sich den staats- und völkerrechtlichen Aspekten von Kirchenasyl zuzuwenden. Das mag auch bei der Einordung mancher öffentlichen Meinungsäußerung helfen.
1. Kirchenasyl ein Recht in Antike und Vormoderne
In der christlich abendländischen Tradition findet das Kirchenasyl seinen Rechtfertigungsgrund in den biblischen Zeugnissen, die neben den Grundaussagen über die Gottebenbildlichkeit und der unverfügbaren Würde des Menschen, für dieses Rechtsinstitut maßgeblich sind. Während es in der hebräischen Tradition beim sog. Tempelasyl (Ex. 21,12-14) unter definierten Umständen um den Schutz des Täters vor Blutrache durch die Sippe des Opfers ging, äußert sich das Neue Testament nicht direkt zu diesem Rechtsinstitut. Nur allgemein weist das Gebot der Aufnahme Fremder auf einen sittlichen Anspruch hin, den Jesus an seine Gefolgschaft richtet (Mt. 25,35). Das Christentum hat das Institut des religiösen Asyls übernommen und in der europäischen Rechtskultur für über 1500 Jahre verankert. Von nun an verstand sich die Kirche als jene Institution, die den Verfolgten aus christlicher Gesinnung Beistand gegen ihre Verfolger leisten musste, insbesondere weil es an einer unabhängigen Rechtsprechung mangelte. Dieser Beistand war am sichersten an Heiligen Orten zu gewähren, die dem Zugriff übergriffiger weltlicher Herrscher entzogen, weil mit dem Schutz der Tatstrafe der Exkommunikation versehen waren. Dieses Asylrecht wird als ein originär kirchliches Recht bezeichnet, dessen Existenz nicht vom Staat der Kirche gewährt worden ist, sondern das diese aus sich heraus, aufgrund des Barmherzigkeitsgebotes[2] und ihrer rechtlichen Autonomie in den res sacrae[3] beansprucht, weil die geistliche Sphäre mit ihrer Ordnung letztinstanzlich über der weltlichen Ordnung steht. Wenigstens der letztgenannte Argumentationshorizont überzeugt im religionsneutralen Verfassungsstaat mit seinen umfassenden Rechtsschutzgewährleistungen aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht.
2. Kirchenasyl im religionsneutralen Verfassungsstaat
Aus juristischer Perspektive erweist sich das Kirchenasyl als ein komplexes und in die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik schwer zu integrierendes Phänomen. Hier geht es nämlich um das Problem, dass das Grundrecht auf Asyl von Dritten (Kirchen), die selbst gar nicht Berechtigte des Art. 16a GG sind, gegenüber dem Staat reklamiert wird. Zu klären wäre ferner, ob die Berufung der Kirchen oder der in ihrem Namen Handelnden auf die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG eine hinreichende Legitimation abgeben könnte.[4]
Die rechtswissenschaftliche Literatur erkennt dieses Rechtsinstitut unter Berufung auf die res sacrae nicht an.[5] Gleiches gilt auch für die Rechtsprechung.[6] So erkannte der EGMR in einer Entscheidung von 2002 an, dass die polizeiliche Zwangsräumung einer besetzten Kirche auch dann zulässig ist, wenn der zuständige Pfarrer ein Einschreiten gegen die Besetzer ablehnt.[7] Wegen des umfassenden Rechtsordnungsanspruches des säkularen Staates gibt es, mit Ausnahme der diplomatischen Vertretungen, keine exterritorialen Gebiete. Ebenso wenig sind die Kirchen oder die kirchlichen Körperschaften, wie z.B. Kirchengemeinden, Adressaten des in Art. 16a Abs. 1 GG formulierten Grundrechts: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Adressat dieses knapp formulierten Grundrechts ist ausschließlich der Staat, Berechtigte sind nur die politisch Verfolgten.[8]
Ein weiterer Begründungsversuch könnte sich aus der Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen aus Art. 137 Abs. 3 WRV i.V.m. Art. 140 GG ergeben. Aber auch das wird nicht als einschlägig anerkannt, weil dieses Selbstbestimmungsrecht einem gesetzlichen Schrankenvorbehalt unterworfen ist, der durch die asylrechtlichen Bestimmungen näher ausgefüllt wird.
Versteht man hingegen das Kirchenasyl nur als Einflussnahme, im Sinne einer Parteinahme für die in einem fremden Rechtssystem Schwächeren, ohne die Letztentscheidungskompetenz der staatlichen Ordnung infrage zu stellen, gehört Kirchenasyl in den metajuridischen Bereich und ist als actio religiosa ein Bestandteil der wesentlichen Lebensäußerungen der Kirche. Damit wäre ein religiös motiviertes Asyl in der Kirche, eine spezifische Form des karitativen und diakonischen Dienstes, die zum verfassungsrechtlich geschützten Wesenskern der positiven Religionsfreiheit aus Art. 4 GG gerechnet werden könnte. Diese Argumentation läuft darauf hinaus, die Zufluchtsgewährung im Einzelfall als eine Gewissensentscheidung i.S.d. Art. 4 Abs. 1 GG des/der Zuflucht Gewährenden anzunehmen. Folgt man dieser Einschätzung, liegt das Kirchenasyl rechtlich allenfalls auf der Ebene des zivilen Ungehorsams, als bürgerlich-rechtliche ultima ratio zum Schutz der Person. Daraus lässt sich nicht mehr als eine staatliche Duldung einer gegengesetzlichen Praxis ableiten. Ein Rechtsinstitut des Kirchenasyls gibt es nicht. Der demokratische Rechtsstaat bedarf dessen auch nicht um seine verfassungsmäßigen Ziele aus den Art. 1-19 GG zu verwirklichen.[9]
3. Kirchenasyl – last chance vor der Abschiebung
Was tun, wenn der Rechtsweg, den das Asylrecht eröffnet, erfolglos abgeschlossen ist? An diesem Punkt beginnt häufig die Flucht einzelner in ein Kirchenasyl, um der drohenden Abschiebung zu entgehen. Der Staat anerkennt seit der Übereinkunft des BAMF mit den Kirchen aus dem Jahr 2015 in den Grenzen der Rechtsordnung für solche Fälle sowohl das stille als auch das öffentliche Kirchenasyl als eine überpositive Tradition.[10] Im Falle des stillen Asyls werden ausschließlich die zuständigen staatlichen Stellen, d. h. die örtliche Ausländerbehörde und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge informiert, während beim öffentlichen Kirchenasyl darüber hinaus die Medien informiert werden. In beiden Fällen werden die staatlichen Stellen über den Verbleib der sich im Kirchenasyl befindenden Personen in Kenntnis gesetzt. Damit besteht staatlicherseits jederzeit die Möglichkeit des Zugriffs und damit die Durchsetzung seines Gewaltmonopols, weil Kirchen und Kirchhöfe unstrittig in der Gegenwart nicht mehr als exemte Orte anerkannt sind, die den Zugriff durch die Behörden ausschließen würden.
4. Resümee
Wenn es richtig ist, dass die Gewährung von Kirchenasyl nicht immer und in jedem Fall gegen die Gemeinwohlinteressen des Staates verstößt und es durchaus im Interesse des Staates liegen kann, überpositive Normansprüche gelten zu lassen, wird man ein regelbasiertes Kirchenasyl, wie es in Deutschland gegenwärtig praktiziert wird, rechtlich nicht beanstanden müssen. Dabei handelt es sich um eine Wertentscheidung der Staatsorgane, die eher auf humanitären Gesichtspunkten beruht als auf einer strengen verfassungsrechtlichen Subsumption.[11] Aber auch das ist im Lichte der Präambel des Grundgesetzes ein verfassungskonformer Umgang mit der staatlichen Ordnungskonzeption des freiheitlich demokratischen Rechtsstaates. Ein Rechtsanspruch, seitens der Kirchenasyl gewährenden Personen oder Gruppen, auf eine solche Wertentscheidung des Staates besteht freilich nicht. Darüber besteht Einigkeit in Rechtsprechung[12] und Literatur[13]. Daher bleibt festzuhalten, dass das Kirchenasyl, trotz staatlicher Duldung, eine Durchbrechung der staatlichen Rechtsordnung darstellt, die ihre Grenzen dort finden muss, wo die überpositive Toleranz der staatlichen Administration an ihre rechtsstaatlichen Grenzen stößt. Das ist insbesondere im Kontext von Dublin II Verfahren zu präsumieren. Daher ist jegliche medial inszenierte Empörung unangebracht, wenn der Staat unter Einhaltung der Übereinkunft von 2015 sein Gewaltmonopol durchsetzt und Personen aus dem Kirchenasyl entfernt und ggf. in sichere (Dritt-)Staaten abschiebt, wie das zuletzt im September 2024 in Hamburg geschehen ist.
[1] Vgl. Staib, Julian, Empörung über „Bruch des Kirchenasyls“ in Hamburg, in: FAZ v. 30.09.2024.
[2] Vgl. Jacobs, Uwe Kai, Kirchliches Asylrecht. Aspekte zu seiner geschichtlichen und gegenwärtigen Geltungskraft, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (ZevKR) 35, 1990, 25-43, 26.
[3] Allerdings wird die Berufung auf die res sacrae, mit Blick auf die geschützten Immobilien der Kirchen, heute in der Rechtswissenschaft bestritten. Vgl. Münch, Ingo von, „Kirchenasyl“: ehrenwert, aber kein Recht, in: NJW 1995, 565-566, 565.
[4] Vgl. Mühleisen, Hans-Otto, Eine notwendige Spannung. Das „Kirchenasyl“, die Grundrechte und die Demokratie, in: Herder-Korrespondenz (HK), 48 1994, 350-354, 352.
[5] Vgl. Pulte, Matthias, Flucht – Migration – Kirchenasyl: (K)ein Ausweg mit den Kirchen?, in: Kerstin von der Decken, Angelika Günzel (Hg.), Staat – Religion – Recht, FS Gerhard Robbers zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 2020, 677-694.
[6] Vgl. ders, Kirchenasyl – ein Privileg der Kirchen im demokratischen Rechtssaat, oder Duldung zivilen Ungehorsams?, in: Jahrbuch der Philosophisch-Theologischen Hochschule SVD St. Augustin Vol. 3 (2015), S. 95-114, bes. 107.
[7] Vgl. EGMR-Entscheidung vom 9.4.2001, in: Stefan Muckel, Manfred Baldus (Hrsg.), Entscheidungen in Kirchensachen, Bd. XL, Berlin 2002, 237-247.
[8] Vgl. Münch, Ingo von, „Kirchenasyl“: ehrenwert, aber kein Recht, in: NJW 1995, 565-566, 565.
[9] Vgl. Pulte, Matthias, Kirchenasyl, (Fn. 6), 104f.
[10] Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Merkblatt Kirchenasyl im Kontext von Dublin-Verfahren, Stand November 2022; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Annette Groth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE, Bt. Drucksache 18/9894, online: https://www.kirchenasyl.de/wp-content/uploads/2016/10/1809894.pdf (Zugriff: 02.01.2020).
[11] So etwa: Hillgruber, Christian, Kirchenasyl – die Perspektive des staatlichen Rechts, in: Becker, M., et al. (Hg.), Fluchtpunkt Integration, Wiesbaden 2018, 283-297, 296 f.
[12] Vgl. OLG München, Keine aufenthaltsrechtliche Duldung bei Eintritt in Kirchenasyl, NJW 2018, 3041; LG Bad Kreuznach: Keine Durchsuchungsbeschlüsse gegen Pfarrer wegen Kirchenasyl, Urteil vom 03.05.2018 – Aktenzeichen 4 OLG 13 Ss 54/18, https://justiz.rlp.de/de/service-informationen/aktuelles/detail/news/detail/News/ermittlungsverfahren-im-zusammenhang-mit-der-gewaehrung-von-kirchenasyl-im-rhein-hunsrueck-kreis/ (Zugriff: 02.01.2020).
[13] Vgl. für viele: Schwerner, Rolf-Oliver, Staatlich anerkanntes Kirchenasyl. Systemfremd in unserer rechtsstaatlichen Ordnung, ZRP 2017, 125-126, 126; Botta, Jonas, Das Kirchenasyl als rechtsfreier Raum? Zum Rechtsschutzbedürfnis von Kirchenasylflüchtlingen, ZAR 2017, 434-440; Hillgruber (Anm. 10), a. a. O.; Herler, Gregor, Kirchliches Asylrecht und Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, zugl. Diss. Universität Würzburg 2004, URN: urn:nbn:de:bvb:20-opus-9114, 86 f.; Görisch, Christoph, Kirchenasyl und staatliches Recht, MBR 129, Berlin 2000, 121 f.; Grefen, Jochen, Kirchenasyl im demokratischen Rechtssaat: Christliche Beistandspflicht und staatliche Flüchtlingspolitik, SÖR 848, Berlin 2001.
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